Von Hans-Reinhard Schmidt
Galt ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitäts-
störung) in der Vergangenheit als angeblich typische Kinderkrankheit, so hat sich in den letzten Jahren breitgemacht, dass angeblich die Mehrzahl der ADHS-Kinder auch noch als Erwachsene daran leiden. In einem Interview zu ADHS in Brigitte 7/2017 behauptet z. B. Alexandra Philipsen, Direktorin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsklinik Oldenburg, dass ca. 60% der Kinder mit der Diagnose ADHS auch noch als Erwachsene an dieser angeblichen Störung leiden.
Philipsen gehört auch dem Beirat von ADHS Deutschland e. V. an, einem Verbund deutscher ADHS-Selbsthilfegruppen. Der Verein schätzt, dass zwei Millionen Erwachsene in Deutschland von ADHS betroffen sind, „ohne die geringste Ahnung davon zu haben“ (1). Frodl u. Skokauskas gehen sogar von 80 % Persistenz der ADHs im Erwachsenenalter aus (2). Die Behandlung mit einschlägigen Psychopharmaka ist in Deutschland denn auch bei Erwachsenen inzwischen zugelassen.
Weil ADHS angeblich bei 5 – 6% der Kinder, aber nur bei 2- 3% der Erwachsenen vorkommt, haben Forscher daraus den falschen Schluss gezogen, dass sich die Krankheit in 50% der Fälle vom Kind bis ins Erwachsenenalter fortsetzt. Dabei hat sich inzwischen gezeigt, dass Kinder und Erwachsene mit der Diagnose ADHS völlig unterschiedliche Menschen sind. Plener fand z. B., dass 90 Prozent der Erwachsenen mit ADHS als Kind noch nicht erkrankt waren, umgekehrt hatten nur 5 Prozent derjenigen mit ADHS im Kindes- und Jugendalter die Erkrankung auch als 38-Jährige. Das Erwachsenen-ADHS war stattdessen sehr häufig mit Suchtmittelmissbrauch und anderen psychischen Störungen assoziiert.
In einer brasilianischen Studie mit über 5000 Personen zeigte sich, dass nur 17 Prozent derjenigen, die eine ADHS im Kindesalter entwickelt hatten, die Erkrankung auch als Erwachsene hatten, umgekehrt waren nur 13 Prozent der Erwachsenen mit ADHS bereits als Kind erkrankt gewesen. Auch diese Studie, so Plener, spreche dafür, dass Kindheits- und Erwachsenen-ADHS zwei unterschiedliche Krankheitsentitäten sind (Ärzteblatt 2018).
In einer britischen Studie mit über 2000 Zwillingen war nur jedes fünfte Kind mit ADHS noch als junger Erwachsener betroffen. „Das ist deutlich weniger, als man bislang angenommen hatte“, sagte Plener. Auch hier hatten die meisten Erwachsenen mit ADHS als Kind noch keine Diagnose, zwei Drittel von ihnen waren als Kind völlig unauffällig. In dieser Studie entwickelten nur 2,6 Prozent der Kinder eine ADHS, das bis ins Erwachsenenalter persistierte, und das waren vor allem diejenigen, die als Kinder oder Jugendliche eine besonders ausgeprägte Erkrankung sowie einen geringen IQ aufwiesen (Plener; Ärzteblatt 2018).
In letzter Zeit sind nun weitere 3 Forschungsstudien erschienen, die den Prozentsatz der im Erwachsenenalter fortbestehenden ADHS lediglich zwischen 10 – 21,9 % beziffern. Die beste dieser Studien ist die von Moffitt et. al., weil sie wirklich Erwachsene heranzog, während in den beiden anderen Studien die “Erwachsenen” erst 18-19 Jahre alt waren. Die Forscher finden nur eine Persistenz von 10 %. Demnach weisen 78,1 – 90 % der Kinder mit der Diagnose ADHS diese Diagnose im Erwachsenenalter nicht mehr auf.
Einige ADHS-Forscher vermuten deshalb, wie gesagt, dass es sich bei den Erwachsenen um ganz andere Störungen handelt als bei den Kindern. Yoshimasu u. a. finden bei Erwachsenen mit ADHS-Diagnose noch bis zu 12 andere psychiatrische Störungen.
Weitaus die meisten Erwachsenen mit der Diagnose ADHS haben also irgendetwas, aber keine ADHS. Wenn schon die (überwiegend an Erwartungen in der Schule orientierte) Diagnostik bei Kindern letztlich evidenzbasierten medizinischen Kriterien nicht entspricht, welchen Sinn könnte es geben, diese Kriterien auch noch bis ins Erwachsenenalter auszuweiten – außer den Absatz von Methylphenidat zu steigern?
Man kann insgesamt festhalten, dass ADHS auch weiterhin allein eine Kinderdiagnose ist. Allerdings ist auch diese nur ein unspezifischer diagnostischer Sammeltopf.
Quellen:
(1) http://www.adhs-deutschland.de/Home/ADHS/Erwachsene/ADHS-im-Erwachsenenalter.aspx
(2) Frodl, T.; Skokauskas, N. (2012): Meta-analysis of structural MRI studies in children and adults with attention deficit hyperactivity disorder indicates treatment effects. Acta Psychiatr Scand 125 (2): Seite 114–26
(3) Moffitt, TE et. al. (2015): Is Adult ADHD a Childhood-Onset Neurodevelopmental Disorder? Evidence From a Four-Decade Longitudinal Cohort Study. Am J Psychiatry. Oct;172(10):967-77
(4) Caye et al. (2016): Attention-Deficit/Hyperactivity Disorder: Trajectories From Childhood to Young Adulthood. Evidence From a Birth Cohort Supporting a Late-onset Syndrome JAMA Psychiatry Research July 1, 2016
(5) Agnew-Blais et al. (2016): Evaluation of the Persistence, Remission, and Emergence of AttentionDeficit/HyperactivityDisorder in Young Adulthood. JAMA Psychiatry Research July 1, 2016 (6) Yoshimasu K et. al.: Adults With Persistent ADHD: Gender and Psychiatric Comorbidities – A Population-Based Longitudinal Study. J Atten Disord. 2016 Nov 18
(6) https://www.aerztezeitung.de/Medizin/Kinder-tragen-ADHS-nur-selten-ins-Erwachsenenalter-228655.html
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