DOPING FÜR ALLE


Von Hans-Reinhard Schmidt

Methylphenidat ist gar kein spezifisches Medikament

Immer wieder wird behauptet, Methylphenidat (der Wirkstoff in Ritalin etc.) wirke spezifisch nur bei ADHS-Erkrankten. Damit wird denn auch seine Verabreichung als Medikament begründet, denn wenn es auch bei Gesunden wirken würde, wäre es ja nicht wirklich ein Medikament. So mancher behauptet sogar noch, die Wirkung von Ritalin beweise die Diagnose ADHS. In Klammern: Ganz so einfach ist es natürlich nicht, denn Morphium oder auch Cannabis wirken ja bekanntlich auch bei Gesunden, werden aber auch medikamentös eingesetzt. Allerdings sind hier die bei Gesunden und Kranken erhofften Wirkungen (z.B. Schmerzlinderung versus Sinnesrausch) doch sehr unterschiedlich. Wie verhält sich dies bei Ritalin?

In einer Auswertung aller vorliegenden relevanten Forschungsstudien zur Wirkung von Methylphenidat bei Gesunden kommen Linssen u. a. zum Ergebnis, dass bereits eine übliche Einmaldosis von Methylphenidat das Arbeitsgedächtnis, die Denkgeschwindigkeit, das verbale Lernen und Merken, die allgemeine Aufmerksamkeit und geistige Wachheit, das Nachdenken und Problemlösen deutlich verbessert (1). Das sind alles Verbesserungen, die man auch bei sogenannten ADHS-Patienten erzielen will. Es wird also deutlich, dass es keinen wesentlichen Unterschied macht, ob man Ritalin als Medikament oder als Neuroenhancement bei Gesunden verwendet.

Kein Wunder bei einem Amphetaminabkömmling. Kein Wunder also, wenn schulisch (aus welchen Gründen auch immer) beeinträchtigte Kinder mit Ritalin „besser“ werden (aber nach Absetzen des Medikaments nicht bleiben), bis hin zu einer leserlicheren Handschrift. Kein Wunder, wenn es auch Menschen mit allerlei anderen Malaisen damit vorübergehend besser zu gehen scheint. Kein Wunder auch, wenn Ritalin als Alltagsdoping im Sinne von Neuro-Enhancement verwendet wird.

Methylphenidat ist gar kein Medikament. Es ist Doping für alle, leider vor allem für kleine Kinder. Eigentlich ein nach oben offener Markt für die Pharma.

Der eigentliche Skandal liegt aber woanders

Sobald ein Kind die Diagnose ADHS hat, interessieren sich Kliniker und leider auch viele Eltern kaum noch dafür, ob psychosoziale Ursachen wie Missbrauch, Vernachlässigung oder gestörte Familiendynamiken mitspielen. Darauf weist die Londoner Kinder- und Jugendpsychiaterin Louise Marie-Elaine Richards in einer Studie hin. Bei einem Vergleich von ADHS-Kindern mit verhaltensgestörten Kindern fanden Kliniker, die die Diagnose der Kinder nicht kannten, bei beiden Gruppen gleich viele psychosoziale Auffälligkeiten. Wenn sie allerdings die Diagnose kannten, übersahen sie solche Faktoren bei ADHS häufig (2; 3).

Für die Kinder kann das verheerende Folgen haben, wenn ihr wirkliches Leid mit der medizinischen Pseudodiagnose ADHS verdeckt und unerkannt bleibt. Die oft jahrelange Psychopharmaka-Medikation hinter dem Deckmäntelchen einer angeblich körperlichen Krankheit „ADHS“ sorgt dann dafür, solche psychosozialen Einflüsse weiter zu ignorieren. Man kann in solchen Fällen von medikalisierter Kindesmisshandlung sprechen.  Richards fordert deshalb, die bereits umfangreich erforschten psychosozialen Faktoren bei Ätiologie, Diagnostik und Therapie von ADHS nicht länger zu leugnen. „Es wird Zeit für die bessere Integration von bio-psycho-sozialen Faktoren bei ADHS“, sagt sie zu Recht (2).
Natürlich liegen nicht bei allen Kindern mit der Diagnose ADHS psychosoziale Ursachen zugrunde, denn die Symptomatik ist multikausal, d. h. es existieren noch viele andere Hintergründe, auch unerkannte medizinische.

Aber die Bedeutung psychosozialer Faktoren bei der Entstehung einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) wurde bisher sträflich vernachlässigt. Die deutlichen Zusammenhänge von ADHS mit seelischer Gesundheit der Eltern, Kindesmisshandlung, posttraumatischer Belastungsstörung, Anpassungsstörung, Vernachlässigung, gestörter Familiendynamik, häuslicher Gewalt, niedrigem psychosozialem Status und anderen Umwelteinflüssen dürfen nun nicht länger ausgeblendet und medikamentös zugedeckt bleiben. Kliniker unterschätzen bislang die Bedeutung solcher psychosozialer Faktoren und sehen sie bestenfalls als Folgen von ADHS, nicht aber auch als Ursachen. Neurobiologische Forschungen, die den Einfluss von frühem Missbrauch und Anpassungsstörungen auf die Hirnentwicklung zeigen, müssen ebenfalls endlich zur Kenntnis genommen werden (3).

Die Bedeutung vieler vorliegender Befunde zum Einfluss psychosozialer Faktoren bei ADHS sowohl für Kliniker als auch für die allgemeine Öffentlichkeit ist weitreichend, vor allem auch für unser Schulsystem. Das bisher einseitig biologisch-medizinische Krankheitsmodell ADHS, das Verhalten zwar beschreibt, aber falsch erklärt, muss endlich optimiert werden.

 

Quellen:
(1) Linssen AM, Sambeth A, Vuurman EF, Riedel WJ.: Cognitive effects of methylphenidate in healthy volunteers: a review of single dose studies. Int J Neuropsychopharmacol.2014 Jan 15:1-17.
(2) Richards, LM.: It is time for a more integrated bio-psycho-social approach to ADHD
Clin Child Psychol Psychiatry. 2012 Oct 26.
(3) Overmeyer S, Taylor E, Blanz B, Schmidt MH: Psychosocial adversities underestimated in hyperkinetic children. J Child Psychol Psychiatry. 1999 Feb;40(2):259-63

Autor: adhskritik

Hans-Reinhard Schmidt, Dipl.-Psych., Psychologischer Psychotherapeut, Gutachter, Buchautor, Supervisor, Dozent.

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