ADHS – VORBEUGUNG: DAS BABY BEIM PSYCHOANALYTIKER

Watch, Wait and Wonder

Die klinische Beschäftigung mit Kleinkindern in ihren ersten Lebensjahren hat in den letzten Jahrzehnten Fortschritte erlebt. Leider können aktuelle Bestrebungen, schon Kleinkindern Psychopharmaka zu geben, nicht zu diesen Fortschritten gerechnet werden. Mutter-Kind-Beziehungsstörungen interessieren biologistische Forscher, Ärzte, Eltern und –nicht zu vergessen: BigPharma- nicht.

Sprechstunden und Therapien für Säuglinge mit «frühen Regulationsstörungen» entstanden aber inzwischen an vielen Orten. Unstillbares Schreien, Schlaf-Rhythmusstörungen und Essstörungen sind die häufigsten Symptome, derentwegen Eltern ihre Säuglinge in solche Sprechstunden bringen. Auf diesem Gebiet besteht ein großer Bedarf, denn solche frühen funktionellen Störungen wurden in der Kinderheilkunde lange zu wenig beachtet und mit verharmlosenden diagnostischen Kategorien, wie beispielsweise «Drei-Monats-Koliken», abgetan.

Erst Arbeiten wie von Papousek haben im deutschen Sprachraum auf die Bedeutung dieser Symptome für die Kindesentwicklung hingewiesen. Unter Kindern mit der Diagnose „AD(H)S“ finden sich überzufällig häufig solche frühkindlichen Störungen, so dass deren frühzeitige Behandlung eine sehr gute Prävention gegen vieles von dem sein dürfte, was heute in den diagnostischen Sammeltopf „AD(H)S“ fällt.

Eine dieser Therapien, die bereits auf eine längere Entwicklung und empirische Prüfung bauen kann, ist die „Watch, Wait and Wonder (Zuschauen, Warten und sich Überraschen lassen)“ genannte Methode von N.J. Cohen, E. Muir und M. Lojkasek. Es handelt sich um ein psychoanalytisch, vor allem bindungstheoretisch begründetes, kindzentriertes Psychotherapieprogramm zur Behandlung gestörter Mutter-Kind-Beziehungen (bzw. Vater-Kind-Beziehungen). Man kann damit bei Säuglingen ab 4 Monaten beginnen.

Die Therapie findet auf einer blauen Matte statt, auf der eine kleine Auswahl altersgerechtes Spielzeug bereitliegt. Die Mutter (oder der Vater) erhält eine allgemeine Anleitung zum Spielen mit dem Baby, wobei sie (er) folgende Regeln einhalten muss:
— sich auf den Boden niederlassen;
— sich vom Kind leiten lassen;
— selbst keinerlei Aktivitäten initiieren;
— in jedem Fall reagieren, wenn das Kind Initiative ergreift, aber die Aktivität unter keinen Umständen  selbst übernehmen;
— das Kind frei erkunden lassen: Das Kind kann alles tun, was es möchte, solange es nicht gefährlich ist;
—«Watch, Wait and Wonder» (Zuschauen, Zuwarten und Staunen) im Hinterkopf haben.

Die eine Hälfte der Sitzung wird dafür verwendet, dass die Mutter ungefähr 20 bis 30 Minuten lang an diesen Aktivitäten teilnimmt. Die Psychotherapeutin schaut Mutter und Baby interessiert zu, ohne einzugreifen oder irgendwie zu lenken. Genauso wenig, wie die Mutter das Baby lenken soll, lenkt die Psychotherapeutin beide. Die Initiative geht ganz allein vom Baby aus. Anschließend besprechen Mutter (Vater) und Psychotherapeutin ihre Erfahrungen und Eindrücke. Im Durchschnitt 14 solche Sitzungen im Zeitraum von ca. 5 Monaten dauert eine solche Therapie, und schon in der ersten oder zweiten Sitzung ergeben sich oft erstaunlich rasche Fortschritte und erhellende Einsichten in die Eltern-Kind-Beziehung.

Literatur:
Benoit, D., Zeanah, C.H., Boucher, C. & Minde, K.K. (1992): Sleep disorders in early childhood: Association with insecure maternal attachment. In: Journal of the American Academy of Child and Adolescent Psychiatry, 31, 86-93.
Bowlby, J. (1988): A secure base: parent-child attachment and healthy human development. Basic Books, New York.
Cohen, N.J. et al. (im Druck): Six month follow-up of two mother-infant psychotherapies: Convergence of therapeutic outcomes. In: Infant Mental Health Journal.
Cramer, B., er al. (1990): Outcome evaluation in brief mother-infant psychotherapy: A preliminary report. In: Infant Menral Health Journal, 11, 278-300.
DeGangi, G.A. & Greenspan, ST. (1997): The effectiveness of short-term interventions in the treatment of inattention and irritability in toddlers. In: Journal of Development and Learning Disorders, 1, 277-298
N.J. Cohen, E. Muir und M. Lojkasek: Watch, Wait and Wonder: Ein kindzentriertes Psychotherapieprogramm zur Behandlung gestörter Mutter-Kind-Beziehungen. In: Kinderanalyse 11, Heft 1, 2003, S. 58-79.
Muir, E., Lojkasek, M. & Cohen, N. (1999): Watch, Wait and Wonder: A manual describing a dyadic infant-led approach to problems in infancy and early childhood. Hincks Dellcrest Institute, Toronto, ON.
Papousek, M. (1999): Regulationsstörungen der frühen Kindheit. Enstehungsbedingungen im Kontext der Eltern-Kind-Beziehung. In: Oerter R. u.a.: Klinische Entwicklungspsychologie. PVU, Weinheim.

Autor: adhskritik

Hans-Reinhard Schmidt, Dipl.-Psych., Psychologischer Psychotherapeut, Gutachter, Buchautor, Supervisor, Dozent.

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