Von Hans-Reinhard Schmidt
Auch für die ADHS gelten medizinische Leitlinien. Darunter versteht man von Fachgremien konsensual formulierte, evidenzbasierte Feststellungen, die z. B. Ärzte bei ihren Entscheidungen über die angemessene Gesundheitsversorgung unter spezifischen klinischen Umständen unterstützen sollen. Solche Leitlinien werden in gewissen Abständen regelmäßig überarbeitet und aktualisiert, so dass dann Anpassungen in der klinischen Praxis erforderlich werden.
Bei der ADHS gilt seit Mai 2018 die „interdisziplinäre, evidenz- und konsensbasierte S3-Leilinie für die ADHS bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen“. An ihrem Konsens waren fast alle deutschen Fachgesellschaften für Psychiatrie und Psychologie beteiligt. Solche Leitlinien sind im Unterschied zu Richtlinien zwar nicht bindend, aber offiziell wird sehr gerne auf sie verwiesen, wenn es darum geht, den aktuellen, angeblich seriösen Stand der wissenschaftlichen klinischen Praxis gegenüber der Öffentlichkeit darzustellen. Nur: Welchen Effekt auf die tatsächliche klinische Praxis haben solche imposant daherkommenden Leitlinien überhaupt?
Dieser bisher unbeantworteten Frage sind australische Forscher um Nguyen T. in einer aktuellen Metaanalyse nachgegangen. Sie fanden, dass in fast 40 % der Fälle gar keine und in den anderen Fällen nur kleine, unwesentliche Effekte eintraten. Im Großen und Ganzen verpuffen solche Leitlinien also wie heiße Luft. Außer Spesen nichts gewesen.
Wenn man dies bei der Bewertung der alltäglichen Praxis sowie von ADHS-Forschungsstudien berücksichtigt, wenn Forscher und Kliniker sozusagen frei nach Schnauze diagnostizieren und behandeln, versteht man die totale Unvergleichbarkeit der Ergebnisse und das Chaos in den Praxen.
Die bei der S3-ADHS-Leitlinie federführenden Wissenschaftler hatten zudem zu über 67 % Interessenkonflikte mit der Pharmaindustrie., alle Koordinatoren, also 100 % hatten ebenfalls solche Konflikte. In einer unabhängigen Bewertung der Leitlinie hinsichtlich solcher Interessenkonflikte erreichte sie denn auch nur 6 von 18 möglichen Punkten.
Man könnte also vermuten, dass sich die Kliniker auch deshalb nicht an solche Leitlinien halten, weil sie deren unseriösen Hintergrund kennen.
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