ADHS: WANN GIBT ES ENDLICH EINEN BIOMARKER?

Wie fänden Sie es, wenn man bei Ihnen eine Krebsdiagnose allein mittels eines subjektiven Fragebogens stellen würde, also ohne exakte Untersuchung von Biomarkern z.B. in Form von pathologischen Zellstrukturen? Eine Horrorvorstellung, nicht wahr?

Bei der ADHS-Diagnostik muss man sich aber mit Fragebögen und subjektiven Einschätzungen begnügen, weil es keine objektiven, zuverlässigen und validen Biomarker gibt. Da hilft es auch nicht, wenn die ADHS-Vertreter eine neuere Studie von DG Amen u.a. zitieren, mittels derer sie Laien einreden, man habe nun endlich einen Biomarker gefunden. Das erinnert an die vergangenen Sensationsmitteilungen, denen zufolge man immer wieder angeblich das ADHS-Gen gefunden hatte. Dass es sich bei der Suche nach dem Biomarker auch wieder um eine Falschdarstellung handelt, wird aus Folgendem deutlich:

𝗗𝗶𝗲 𝗦𝘁𝘂𝗱𝗶𝗲
DG Amen u.a. haben in ihren eigenen Kliniken eine Gruppe von Patienten erstellt, die „reine ADHS“ hatten ohne eine Komorbidität oder andere psychiatrische Diagnose. Diese Gruppe haben sie mit einer kleinen, mit Medien gesammelten und deshalb zweifelhaften Kontrollgruppe von Menschen ohne ADHS und andere psychiatrische Diagnosen mittels funktioneller SPECT verglichen (dabei wird eine Radiopharmakon-Injektion gegeben, um dann Schnittbilder des Gehirns anzufertigen).

Die Forscher haben Unterschiede in verschiedenen Hirnarealen zwischen den Gruppen gefunden, die ADHS als Biomarker kennzeichnen könnten. Aber stimmt das?

𝗞𝗲𝗶𝗻𝗲 𝗔𝘂𝘀𝘀𝗮𝗴𝗲 𝘇𝘂𝗿 𝗞𝗮𝘂𝘀𝗮𝗹𝗶𝘁ä𝘁
Die Studie ist zunächst einmal retrospektiv und kann allein schon deshalb keine Aussage zur Kausalität von Hirnbesonderheiten und ADHS-Symptomatik machen. Dass Hirnbesonderheiten der (diagnostische) Grund für ADHS sind, lässt sich mit einem solchen Studiendesign gar nicht feststellen. Es kann ja plausibler sein, dass unterschiedliche Lebensbedingungen (sprich Hirnnutzungsbedingungen) die Ursache für Verhaltens- und Hirnanpassungen sind (sprich Epigenetik). Man kennt ja das berühmte Beispiel der veränderten Gehirne von Londoner Taxifahrern, die nicht Taxifahrer geworden waren, weil sie ein anderes Gehirn hatten, sondern bei denen die jahrzehntelange Kurverei im komplizierten Londoner Straßennetz das Gehirn verändert hatte. Keine Krankheit also, sondern ein schönes Beispiel für die wunderbare Plastizität unseres Gehirns.

𝗠𝗮𝗻𝗴𝗲𝗹𝗵𝗮𝗳𝘁𝗲 𝗔𝘂𝘀𝘀𝗰𝗵𝗹𝘂𝘀𝘀𝗱𝗶𝗮𝗴𝗻𝗼𝘀𝘁𝗶𝗸
Zum anderen hat die Studie eine mangelhafte Ausschlussdiagnostik betrieben, als sie für ihre Versuchsgruppe „reines ADHS“ gesucht hat. Die Autoren stellen selber fest, dass bei ADHS Komorbidität die Regel ist und „reines“ ADHS die Ausnahme. Deshalb muss man viel mehr mögliche ADHS-Ursachen als lediglich sieben psychiatrische ausschließen, als es die Autoren getan haben. Es gibt viel mehr einschlägige psychiatrisch-psychologische Störungen, und somatische Ursachen haben sie überhaupt nicht ausgeschlossen (z.B. Schilddrüsenstörungen und vieles andere). Insofern ist die ADHS-Diagnostik der Studie völlig unspezifisch, und damit die gesamten Ergebnisse.

Generell kann man ADHS als spezifische Krankheit ja sowieso nur mittels eines Vergleichs mit anderen Störungen, nicht mit „Normalos“, identifizieren. Das hat diese Studie versäumt.

𝗩𝗲𝗿𝘀𝘂𝗰𝗵𝘀𝗽𝗲𝗿𝘀𝗼𝗻𝗲𝗻 𝘂𝗻𝘁𝗲𝗿 𝗣𝘀𝘆𝗰𝗵𝗼𝗽𝗵𝗮𝗿𝗺𝗮𝗸𝗮
Besonders problematisch ist, dass die Versuchsgruppe unter dem Einfluss von Psychopharmaka stand. Waren die Hirnbesonderheiten wirklich Ausdruck von ADHS, oder nicht nur von Psychopharmaka? Dieser Verdacht entwertet das Untersuchungsergebnis zusätzlich gravierend.

Die Autoren betonen abschließend selbst, dass ihre Studie mit „reinem“ ADHS angesichts der massiven Komorbidität bei ADHS nicht ausreicht, um einen soliden Biomarker zu finden. Zitat: „Daher reicht eine Studie über reines ADHS nicht aus, um einen klinisch nützlichen bildgebenden Biomarker für ADHS zu identifizieren.“

𝗔𝗠𝗘𝗡
DG Amen ist bekannt für seine jahrzehntealten, verbiesterten Versuche, eine hirnfunktionelle Ursache für ADHS zu finden, aber alle sind im biologistischen Nirwana verschwunden. Von Epigenetik und Neuroplastizität hat er noch nie gehört und mit den Patienten seiner eigenen Kliniken amortisiert er seine SPECT-Apparate.

Interessenkonflikt
Da alle Versuchspersonen und Forscher aus Amen-Kliniken stammen, kann ein grundsätzlicher Interessenkonflikt nicht ausgeschlossen werden. Ein Co-Autor ist Präsident und Haupteigentümer von Synaptic Space, einem Beratungsunternehmen für Neuroimaging. Ein weiterer Co-Autor der Studie ist der alleinige Eigentümer von Amen Clinics, einer Gruppe von neun neuropsychiatrischen Kliniken, die Gehirn-SPECT-Bildgebung durchführen. Finanzielle Interessen sind damit sicherlich verbunden.

𝗙𝗔𝗭𝗜𝗧
Man muss damit aufhören, Laien wissenschaftliche Halbgarheiten als Fortschritte einzureden. Es bleibt bei dem Zitat von L. Furman: „Es ist unwahrscheinlich, dass ADHS eine spezifische Krankheit ist“. Ohne Biomarker. Amen.

https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/34899414/

Autor: adhskritik

Hans-Reinhard Schmidt, Dipl.-Psych., Psychologischer Psychotherapeut, Gutachter, Buchautor, Supervisor, Dozent.

%d Bloggern gefällt das: