DAS TRÄUMERLE IST GAR NICHT KRANK

Von Hans-Reinhard Schmidt

Immer wieder melden sich „Betroffene“, die selbst (oder deren Kind) ein „Hypo“ seien, ein „Träumerchen“, jemand, der auffallend wenig aktiv, also „hypoaktiv“, aber „aufmerksamkeitsgestört“ sei. Solche Menschen fragen z.B. nach Fachliteratur oder Forschungsergebnissen und hören dann nie etwas wissenschaftlich Seriöses. Andere sprechen vom „reinen ADS“, wenn ausschließlich eine Aufmerksamkeitsstörung vorliege, was vorwiegend bei Mädchen auftrete. Wieder andere glauben an so etwas wie SCT (Sluggish Cognitive Tempo).

Das Ärzteblatt verbreitet dieser Tage in gewohnt unkritischer Art, dass angeblich nicht alle ADHS-Kinder hyperaktiv seien. Helga Simchen hat dazu schon vor 17 Jahren ein überflüssiges Buch geschrieben, es handelt sich also keineswegs um eine Neuigkeit, sondern um Schnee von vorgestern.

Sehen wir genauer hin: Manfred Döpfner meint: „In den Fachkreisen besteht Uneinigkeit darüber, ob für die Diagnose einer hyperkinetischen Störung Auffälligkeiten in allen 3 Kernbereichen (Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität, Impulsivität) vorliegen müssen oder ob es verschiedene Unterformen von hyperkinetischen Störungen gibt, nämlich:

– hyperkinetische Störungen mit Auffälligkeiten in allen 3 Kernbereichen,
– hyperkinetische Störungen, die hauptsächlich durch Aufmerksamkeitsschwächen, aber weniger durch Impulsivität und motorische Unruhe gekennzeichnet sind, und
– hyperkinetische Störungen, die hauptsächlich durch Impulsivität und motorische Unruhe und weniger durch Aufmerksamkeitsschwächen gekennzeichnet sind.“

Man weiß also wieder einmal gar nichts genau. Dass sogenannte Hypoaktivität bei einem sogenannten Hyperkinetischen Syndrom vorkommen soll, klingt doch sehr nach einem schwarzen Schimmel. Hypokinese bzw. Akinese kennt man sonst eigentlich nur im Zusammenhang mit psychiatrischen Krankheitsbildern wie Parkinson oder Schizophrenie.

Auch der schweizer ADHS-Fachmann Piero Rossi bezweifelt, ob es bei ADHS überhaupt ein spezifisches, selektives Aufmerksamkeitsdefizit gibt: „Leider konnte in Untersuchungen bisher keine ADHS-spezifische Aufmerksamkeitsschwäche gefunden werden…Wahrscheinlich wird man das ADHS-kennzeichnende Aufmerksamkeitsdefizit gar nie entdecken, da es -so meine persönliche Vermutung- gar nicht existiert.“

Huang-Pollock u. a sind dieser alten Grundfrage noch einmal nachgegangen und haben Aufmerksamkeitsstörungen bei ADHS-diagnostizierten Kindern des primär unaufmerksamen Typs sowie bei solchen des kombinierten (hyperaktiven und unaufmerksamen) Typs gesucht – und keine gefunden. In keiner der beiden ADHS-Untergruppen fanden sie selektive Aufmerksamkeitsstörungen. Sie schließen daraus, dass wahrscheinlich die meisten ADHS-diagnostizierten Kinder eine völlig normale Aufmerksamkeit haben. Dass es bei ADHS einen Subtyp der primär aufmerksamkeitsgestörten Kinder überhaupt gibt, ziehen sie denn auch in Zweifel.

Das bestätigt auch unsere klinische Erfahrung mit sog. „ADHS-Kindern“. Bei den wenigsten dieser Kinder konnten wir in einer testpsychologischen Nachuntersuchung und in der längeren klinischen Beobachtung spezifische Aufmerksamkeitsstörungen feststellen, auch nicht mit bewährten Tests wie z.B. dem DAT (Dortmunder Aufmerksamkeitstest). Nur bei 2 Prozent dieser diagnostizierten Kinder gab es hierbei unterdurchschnittliche Werte. Das, was Eltern und/oder Lehrer als Aufmerksamkeitsproblem, Zerstreutheit oder „Schusseligkeit“ beschrieben, war meistens motivational zu verstehen (z.B. schulische Über- bzw. Unterforderung, seelische Belastung, Traumatisierung, Depressionen, elterliche Scheidung, familiäre Störung, etc.).

Und was bleibt? Die sog. Hyperaktivität und Impulsivität, die erst recht keiner objektiv, zuverlässig und valide messen kann? Und deren „Ursachen“ genauso vielfältig sind wie die Lebensgeschichten der Kinder?

Aufmerksamkeitsdefizit, Impulsivität, Hyperaktivität: das sind die bekannten 3 Heiligen aus dem ADHS-Land. Wir haben uns schon öfter darüber ausgelassen, wie vieldeutig und unscharf diese angeblichen Kernsymptome definiert und gemessen werden, wie unzuverlässig und willkürlich die auf sie gründende ADHS-Diagnose daherkommt. Wer hat sich eigentlich diese syndromatische Dreieinigkeit ausgedacht? Warum gerade diese Verhaltensweisen, warum gerade deren drei? Und besteht überhaupt Einigkeit über diese Dreieinigkeit?

Keineswegs! Nicht einmal die Kernfrage, ob diese 3 Symptome wirklich ein Syndrom bilden oder für ganz unterschiedliche Störungen bzw. Krankheiten stehen, ist klar.

Diamant bezweifelt schon länger, dass ADHS ohne Hyperaktivität überhaupt ein Subtyp von ADHS ist. Es sei vielmehr eine andere Störung als ADHS, sowohl hinsichtlich der Ätiologie, der typischen Verhaltensweisen, der Komorbiditäten und der medikamentösen Behandlung. Adams u.a. greifen dies erneut auf und regen entsprechende weitere Forschungen an. Auch der berühmte ADHS-Forscher Russell Barkley hält ADS nicht für einen Subtyp von ADHS, sondern für eine andere, eigene Störung, genannt Sluggish Cognitive Tempo (SCT).

Das sogenannte Träumerchen hätte demnach gar keine ADHS, es hat irgendetwas anderes, wie immer bei ADHS.
Aber schon wieder war eine neue Krankheit „entdeckt“!

Quellen:
Diamant: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/16262993
Adams: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/1907275
Döpfner: Wackelpeter u. Trotzkopf. Beltz 2000, S. 18 ff.
Huang Pollock: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/16238668
Piero Rossi: https://www.adhspedia.de/wiki/Piero_Rossi

Autor: adhskritik

Hans-Reinhard Schmidt, Dipl.-Psych., Psychologischer Psychotherapeut, Gutachter, Buchautor, Supervisor, Dozent.

%d Bloggern gefällt das: